DIE BÜRGERRATSEMPFEHLUNGEN "ERNÄHRUNG IM WANDEL" SIND DA - SO KÖNNEN SIE VON NUTZEN SEIN
Neuigkeit in Deutschlands Demokratie: Seit September 2023 tagte der erste Bürgerrat. 160 per Losverfahren ausgewählte Bürger*innen, die den Querschnitt der Bevölkerung abbilden, diskutierten über „Ernährung im Wandel“. Dabei standen Themen wie die Bezahlbarkeit oder die Kennzeichnung von Lebensmitteln im Fokus. Vor kurzem wurden die Empfehlungen vorgestellt, die der Bürgerrat dem Deutschen Bundestag übergibt. Wir haben Prof. Dr. Melanie Speck, Professorin an der Hochschule Osnabrück und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Bürgerrats, gefragt: Wirkliches Veränderungspotenzial oder reine Scheinanhörung?
„Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheiten und staatlichen Aufgaben“ – das ist der Titel, zu dem der Bürgerrat einberufen wurde. Frau Speck, erklären Sie uns kurz: Was ist der „Bürgerrat“ für ein (ernährungs-) politisches Instrument und welche Funktionen kommen im zu?
Die grundsätzliche Idee des Bürgerrats ist es, den Querschnitt der Bevölkerung zu einem Thema zu befragen. In diesem Fall ging es darum, wie unsere Ernährung in Zukunft gestalten werden soll. Über einen solch repräsentativen Rat gelingt es, wirklich alle in diesen demokratischen Prozess einzubinden: ob jung, ob alt, aus städtischen oder ländlichen Regionen, politisch aktiv oder eben noch nicht am Thema interessiert. Aus Sicht der Verbraucherpolitik ist es also ein sehr gutes Instrument, um mehr Beteiligung der Bevölkerung zu schaffen. Es ermöglicht uns Fachkräften und der Politik zu erfahren, wo Bürger*innen stehen: Wo brauchen sie mehr Unterstützung als wir denken, wo sind sie sogar progressiver als wir es annehmen.
Nach mehreren Monaten intensiver Arbeit liegen nun neun priorisierte Empfehlungen vor. So soll beispielsweise das Mittagessen an allen Kitas und Schulen kostenfrei gestaltet werden und ein verpflichtendes staatliches Label bewusstes Einkaufen erleichtern. Wie ordnen Sie die Ergebnisse ein?
Ich bin sehr stolz darauf, dass ich diesen Prozess mitbegleiten durfte. Ich habe sehr viel von den Bürger*innen lernen dürfen. Zum Beispiel, wie schnell man sich in Themen einarbeiten kann und dann dafür einsteht, egal woher man kommt. Das war wirklich gelebte Demokratie.
Grundsätzlich treffen die Ergebnisse die wissenschaftlichen Erkenntnisse sehr gut. Als Wissenschaftlerin hätte ich einige Empfehlungen anders priorisiert. Das Gute daran ist aber: Darum ging es nicht. Wir als Wissenschaftlicher Beirat sollten beraten, nicht entscheiden. Wir wurden hinzugezogen, um Inputs zu liefern, waren bei den Detail-Diskussionen und Ausarbeitungen der Empfehlungen im Detail nicht mehr anwesend. Nur so konnte gewährleistet werden, dass wirklich der Wille der Bevölkerung wiedergegeben wird. Das ist hervorragend gelungen.
Sehen die Bürger*innen Ernährung denn eher als eine Privatangelegenheit oder als staatliche Aufgabe?
Es war wirklich beeindruckend zu sehen, wie die Bürger*innen stets beides im Blick hatten: Sie nehmen die Politik, aber auch sich selbst in die Verantwortung, um Veränderungen umzusetzen.
Viele Bürger*innen sind sehr gemeinwohlorientiert und darauf bedacht, alle Menschen mitzudenken. Das beitragsfreie Mittagessen an Kitas und Schulen ist dafür ein passendes Beispiel. Es soll sicherstellen, dass alle Kinder und Jugendlichen mit einer warmen Mahlzeit am Tag versorgt werden. In diesem Fall oder auch wenn es um die Marktpolitik geht, indem über geänderte Mehrwertsteuersätze auf Lebensmitteln eine gesündere Ernährung eingelenkt werden kann, sehen sie die Bundesregierung in der Verantwortung. Die Politik soll die richtigen Akzente setzen, damit eine gesündere und nachhaltigere Ernährung möglich ist.
Die Bürger*innen erkennen aber auch an, dass ihre Konsumentscheidungen im Supermarkt auch eigene Verantwortung mit sich bringen. Ihnen ist bewusst, dass sich das Essverhalten auf Umwelt, soziale Aspekte oder gar andere Länder auswirkt. Sie wollen wissen woher das Fleisch auf dem Teller kommt und eine Mehrheit des Bürgerrates war dann auch dafür, mehr zu bezahlen.
Was meinen Sie: Welche Relevanz haben die Empfehlungen der Bürgerräte zukünftig in politischen Entscheidungsfindungen?
Die Bürger*innen haben große Hoffnung, dass viel passiert und sich ihre intensive Arbeit auszahlt. Die Empfehlungen sind nicht bindend, die Bundesregierung trägt nun aber die Verantwortung, diesen demokratischen Prozess ernst zu nehmen – auch parteiübergreifend.
An vielen Punkten stellte sich die Frage der Zuständigkeiten. Auch wenn einige Empfehlungen – wie zum Beispiel die Schulverpflegung – Aufgabe von Kommunen und Bundesländern ist, sieht der Bürgerrat die Bundesregierung in der Pflicht. Sie wollen, dass der Bund sich einmischt. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas hat bei der Anhörung der Empfehlung dazu angeregt, mit allen Ebenen ins Gespräch zu gehen.
Viele unsere Leser*innen sind in ernährungsbezogenen Fachinstitutionen oder als (ehrenamtliche) Multiplikator*innen tätig. Wie sollten bzw. können Fachkräfte und Engagierte die Bürgerratsempfehlungen in ihre Arbeit integrieren?
Fachkräfte und Multiplikator*innen sollten das Gutachten sehr genau lesen. Neben den inhaltlichen Empfehlungen werden bereits Vorschläge für Finanzierungsmöglichkeiten und erste Schritte gegeben. Die einzelnen Empfehlungen sind hoch angesetzte Ziele. Das Mittagessen an Kitas und Schulen beitragsfrei zu gestalten, wird einige Zeit in Anspruch nehmen. Nichtsdestotrotz kann bereits jetzt der Weg dahin über einzelne Teilprojekte eingeleitet werden: Hauswirtschaftskräfte in Einrichtungen können ihre Speisepläne an den DGE-Qualitätsstandards ausrichten, Vernetzungsstellen und weitere Fachkräfte können die Umsetzung der Standards weiter unterstützen. Sie sind eine Bedingung für die Empfehlung. Es lohnt sich also sich zu fragen: „Was kann ich dazu beitragen, auch wenn die Empfehlungen an den Bund adressiert sind?“
Wie ist das denn generell: Sind Bürgerräte nur ein geeignetes Instrument auf Bundesebene oder können diese auch auf landes- bzw. kommunaler Ebene eingesetzt werden?
Das große Potenzial von Bürgerräten ist, dass sie den Querschnitt der Bevölkerung abbilden. Das kann auch der Querschnitt eines Bundeslandes oder einer Kommune sein. Es kommt immer darauf an, welche Frage beantwortet und auf welcher Ebene die Veränderungen angestrebt werden sollen.
Was ist Ihr Fazit: Wirkliches Veränderungspotenzial oder reine Scheinanhörung?
Ich bin wirklich überrascht und begeistert, was über diesen Prozess gewonnen werden konnte: Die Bürger*innen sind in kürzester Zeit zu Expert*innen geworden. Über diesen Prozess ist es gelungen, gemeinsam demokratisch zusammenzuarbeiten. Das hat aus meiner Sicht sowohl die Bürger*innen, die Bundesregierung als auch die Fachkräfte im Ernährungsbereich weitergebracht. Auch unabhängig vom Thema sehe ich Bürgerräte als sinnvolles Instrument an, das zukünftig weiter genutzt werden sollte. Die Bürger*innen sind an wirklich einigen Stellen progressiver, als wir es ihnen manchmal zuschreiben.
Frau Speck, herzlichen Dank für das interessante Interview und den Einblick in die noch recht neue Arbeit eines Bürgerrats.